ROLF SCHRADER, GESCHÄFTSFÜHRER DEUTSCHES SEMINAR FÜR TOURISMUS (DSFT) BERLIN

Ein Gespräch über das Zertifizierungssystem „Reisen für Alle“, die Absage des Förderantrags an den Tourismus für Alle Deutschland e.V. (NatKo), und welche Rolle das Thema Barrierefreiheit inzwischen für Regionen und sogar Reiseveranstalter spielt.

 

Lassen Sie uns die Irritationen glätten, zu der wir am Mittwoch beigetragen haben: Das System Reisen für Alle lebt, richtig?!

Wir sind tatsächlich aufgrund der Meldung in Ihrem Newsletter angerufen worden und haben immer wieder versichert, dass sich das System „Reisen für Alle“ aus unserer Sicht sehr dynamisch entwickelt und weiterhin vom BMWi gefördert wird. Die Absage des Förderantrags an den Tourismus für Alle Deutschland e.V. (NatKo) hat auf das Projekt keinen Einfluss. Gerade haben wir Zuspruch von einem großen Reiseveranstalter bekommen und es gibt viele Betriebe, die als Wiederholer schon in die Rezertifizierung gehen.

 

Was bedeutet dann die Entscheidung des BMWi für das gemeinsame Wirken von DSFT und NatKo?

Das Flankierungsprojekt der NatKo, das jetzt entfällt, ist ein kleiner Baustein. Auch ohne ihn wird sich das System verbreiten und gut weiterentwickeln. Angedacht waren regionale Veranstaltungen, auf denen die NatKo aus Sicht der Betroffenen-Organisationen informiert. Geld, um eine große Kampagne zu starten, haben wir nicht. Deshalb konzentrieren wir uns darauf, touristische Partner und Leistungsträger für das Thema Barrierefreiheit und unser Projekt zu sensibilisieren. Das gemeinsame Wirken von DSFT und NatKo wird in keiner Weise eingeschränkt. Die NatKo ist im Projekt seit Anfang an dabei. Es gibt verschiedene Entwicklungsphasen und dementsprechend Schwerpunkte der Arbeit. Gerade geht es darum, die Abläufe zu optimieren und die Datenbank zu bespielen.

 

Wenn Sie persönlich zurückblicken auf den bisherigen Weg, den sie gemeinsam als Projektkoordination gegangen sind. Was waren die Hürden, die umschifft werden mussten – was die Meilensteine?

Am Beginn waren die NatKo und die Betroffenenverbände starke Treiber. Eine große Hürde waren schnell die Organisationen in der Branche, die schon ein eigenes System am Start hatten. Um mit dem Projekt starten zu können, hatten wir ihr Verständnis zu erreichen, dass es Sinn macht, ein deutschlandweites System aufzusetzen und alle Bundesländer mitzunehmen. Die nächste Hürde und gleichzeitig ein Meilenstein wurde die Phase, in der es darum ging, was die Datenbank können sollte und wie sie aufgebaut sein und funktionieren sollte. Die Diskussionen verzögerten das Projekt um ein Dreivierteljahr, da in großer Runde ein Pflichtenheft erarbeitet wurde.

 

Danach ging s dann richtig los?

Danach waren die Anforderungen so, dass wir sicher sein konnten, dass alle Bundesländer mitziehen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat sie alle abgefragt, bevor es die nächste Projektphase bewilligte. Dass es für Länder wie Bayern, Berlin und Niedersachsen, die vorher nichts hatten, viel einfacher war als für ein Bundesland, das viel Geld für ein eigenes System ausgegeben hatte, das funktioniert, konnten wir vollkommen verstehen. Auch, dass sie sehen wollten, was wir liefern, war nachvollziehbar. Jetzt haben wir das System geliefert. Die DZT kann nun zeitnah und schneller alle Betriebe darstellen, auf Deutsch und in Englisch. Das haben wir auf der ITB Berlin 2019 präsentiert. Jetzt denke ich, werden die noch fehlenden Bundesländer einsteigen. Von den drei größeren Ländern, Baden-Württemberg, Sachsen und Brandenburg, gibt es mündliche Zusagen. Fehlen noch das Saarland und Bremen, wo es trotzdem schon die einen oder anderen zertifizierten Betriebe gibt. Und Bremerhaven ist seit 2018 sehr aktiv, ist aber nur ein Teil des Bundeslands Bremen. Sicher ist: Ganz egal, wie sich die noch zögernden zwei Länder entscheiden werden, wir bieten das System auf jeden Fall jedem Betrieb in Deutschland an, jeder kann die Zertifizierung bekommen.

 

Was macht Sie stolz, wenn Sie den Stand heute sehen? Was nehmen Sie mit?

Peu a peu sickert „Reisen für Alle“ auf allen Ebenen in die Tourismusbranche hinein. Es ist doch angekommen! In vielen Prospekten finde ich Piktogramme und Hinweise. Dass es sich schon nach wenigen Jahren in der Fachbranche im Deutschland-Tourismus etabliert hat, ist nicht nur unsere eigene Leistung. Viele Bundesländer haben eigene Projekte und Förderprogramme aufgelegt. Hotel-Kooperationen wie Embrace-Hotels sind dabei, auch der ADAC. Wir können ein bisschen stolz darauf sein. Jetzt mit der TUI erleben wir, dass unser System auch für große Anlagen funktioniert. Nach dem Auftakt im Robinson Club Fleesensee wird die TUI einige ihrer Hotelanlagen in Zielländern erheben und zertifizieren, das ist gut für deutsche Gäste. Ich freue mich, dass die TUI unser System ausprobiert. Als i-Tüpfelchen wird die erste Anwendung von einem großen Veranstalter zeigen, ob das, was wir vermuten, auch eintrifft.

 

Wer kann jetzt beim bundesweiten Erhebungs- und Kennzeichnungssystem Reisen für Alle mitmachen?

Das System ist angelegt für die Tourismusbranche in Deutschland. Alle Betriebe, Dienstleister und Organisationen entlang der gesamten Servicekette von Touristinfo bis Metzgerei können mitmachen. Mit Ostfriesland haben wir die erste barrierefreie Tourismusregion ausgezeichnet, es folgen Bremerhaven, Dortmund, Erfurt und Tegernsee. Im Portfolio gibt es Museen, Cafe’s, Tagungsstätten, Ausflugsdampfer, Baumwipfelpfade, Bergbahnen und Fähren. Auch Ärzte und Apotheken werden von Touristen mal besucht. Es ist als Lizenzsystem mit den Bundesländern aufgebaut  – noch anfallende Lücken werden geschlossen durch uns. Zurzeit sind mehr als die Hälfte der Zertifizierungen Übernachtungsbetriebe und Ferienwohnungen.

 

Wer prüft? Was kostet es? Und wer zahlt?

Die Kosten sind unterschiedlich je nach Aufwand und Umfang der Erhebung, also wie groß und komplex der Betrieb ist, und je nach Bundesland. Es fängt bei einem kleinen Betrieb um die 300 Euro an und kann sich für eine große Einrichtung wie einem Freizeitpark oder Flughafen auf bis zu 1.500 Euro belaufen, ohne Förderung. Es gibt Bundesländer wie Hamburg, Berlin und Niedersachsen, die die Kosten für die Zertifizierung ganz übernehmen, weil sie das Angebot schnell aufbauen wollen. Andere Bundesländer wie Bayern und Rheinland-Pfalz übernehmen Teilbeträge. Die Zertifizierung gilt für drei Jahre, dann muss sie erneuert werden. Die Erheber sind unabhängig und ausgebildet, sie kommen in das Unternehmen und erbringen ihre Zeit und Leistung dort.

 

Wie wollen Sie jetzt – ohne große Kampagne – das Kennzeichnungssystem bekannt machen?

Wir setzen stark auf unser Partner-Netzwerk, DZT und ADAC, die LMO’s leisten die Arbeit gut, sie sind Lizenznehmer des Systems. Von DSFT-Seite machen wir Fachkonferenzen, versenden Newsletter, bedienen eigene Kanäle. Es gibt viele unterschiedliche Wege, wenn die kleinen Regionen und Orte auf Messen gehen, präsentieren sie „Reisen für Alle“ ja auch mit in ihrem Angebot.

 

Gerade hat auf der ITB Berlin 2019 der 8. Tag des Barrierefreien Tourismus stattgefunden, mit internationaler Beteiligung und Blick über den Tellerrand – auch hier sind DSFT und NatKo Partner der ersten Stunde. Was hat sich getan in den acht Jahren?

In den acht Jahren ist aus dem Fachtag eine internationale Plattform geworden, neben Best Practice aus Deutschland werden Beispiele aus anderen Ländern vorgestellt. Der Tag des Barrierefreien Tourismus ist akzeptiert und auf der weltgrößten Tourismusmesse aus der Nische herausgekommen. Er präsentiert Barrierefreiheit als Qualitätsmerkmal für die gesamte Tourismusbranche, das alle Bereiche umfasst. Als Ideengeber ist die NatKo letztlich für das inhaltliche Programm und die Konzeption zuständig und bezieht die AG Leichtes Reisen ein, Messe Berlin und die Förderung des BMWI ermöglichen die Veranstaltung, die DZT hat die Durchführung ein bisschen professionalisiert, seitdem sie mit an Bord ist.

 

Gibt es im Zeitalter der Digitalisierung bei Ihnen Gedanken, eine Community einzurichten?

Wie fördern Sie Austausch und Netzwerken der beteiligten Partner. Eine eigene Community, die in beiden Richtungen kommuniziert, haben wir nicht. Es gibt verschiedene Instrumente wie Präsenzveranstaltungen, Seminare, Konferenzen als Austauschmöglichkeiten. Gerade die regionale Vernetzung ist eine Anforderung, die wir stellen. Es ist wichtig, ein lokales, regionales Netzwerk aufzubauen, in dem alle Leistungsträger in Sachen Barrierefreiheit miteinander arbeiten und auch von unten die kleinsten Einheiten zusammenkommen.

 

Wir gehen mal davon aus, dass das Projekt Reisen für Alle über das Jahr 2020 verlängert wird. Wo möchten Sie in fünf Jahren stehen? Und was denken Sie, wird Reisen für Alle in zehn Jahren bewirkt haben?

Vorrangig ist unser Ziel, möglichst viele Partner und Betriebe zu gewinnen – und zwar dauerhaft. Wir streben eine hohe Wiederholer-Quote an. Jetzt brauchen wir einfach noch eine absolute Steigerung. In fünf Jahren möchten wir den Punkt erreicht haben, dass sich das System selbst finanziert und ohne Förderung auskommt. In zehn Jahren kann ich mir eine Harmonisierung mit anderen Ländern vorstellen, Reisen ist international. Dass sich der Blick über Deutschland hinaus gerichtet hat, und es z.B. auch in österreichischen, schweizerischen und französischen Systemen, soweit es finanziert wird, überall vergleichbare Informationen gibt, die für uns in Deutschland als Standardinformationen dazugehören und nicht nur schöne Fotos. Ja, dass Reisen für Alle ein bisschen Selbstverständlichkeit wird und seinen Modell-Charakter verliert. Es geht nicht darum, unser System zu exportieren und damit als deutscher Tourismus die Welt zu beglücken. Wir sind offen, wenn Länder auf uns zu kommen, die noch kein eigenes System haben. Unser Ziel ist, dass barrierefreie Angebote international schon vergleichbar sind, auch in ähnlichen Systemen. Damit es für Gäste leichter ist, sich auch über Deutschland hinaus verlässlich zu informieren und besser vergleichen zu können.

 

Gibt es etwas, das Sie der Branche gern noch sagen wollen?

Ist es nicht so? Mit dem Alter geht, sieht und hört man schlechter. Wenn man sich heute für Barrierefreiheit engagiert, kommt sie den Menschen zu Gute, die sie heute brauchen. Zukünftig, vielleicht in 20-30 Jahren, kommt sie einem selbst zu Gute – und dann freuen wir uns darüber.

 

Interview: Sabine Neumann