New Work Experiences gewinnen für den Tourismus zunehmend an Bedeutung. In Brandenburg gibt es inzwischen rund 70 Orte, an denen sich touristische Co-Ansätze finden. Wie die Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH deren Vernetzung fördert, die Angebote sichtbar macht und Coworking den ländlichen Raum verändern kann.
Wenn Werte- und digitaler Wandel, Individualisierung bei gleichzeitigem Wunsch nach Gemeinschaft, ein neues Arbeitsverständnis und Landlust zusammenkommen, reagiert auch die touristische Landschaft. Sei es mit neuen Angebotsformen wie Workations, Coworkings, Retreats und Offsites oder mit einer Nachfrage nach Produkten, die sich als Dritte und hybride Angebote zwischen Arbeits- und Urlaubswelt entwickeln.
Ursprünglich brachte man mit den obenstehenden Begriffen eher die Fernreiseziele der digitalen Nomaden in Verbindung, doch seit ein paar Jahren entstehen auch im deutschsprachigen Raum immer mehr Unternehmen, die sich diesem Trend verschrieben haben. Sie locken ein internationales Publikum auch in ländliche Regionen und ermöglichen oft das, was auf vielen Tourismuskonferenzen immer wieder postuliert wird: eine Art von Tourismus, die über sich selbst hinausreicht, zur Lebensqualität beiträgt, Angebot auch für die einheimische Bevölkerung schafft und die Grenze zwischen Reisenden und Bereisten einreißt.
Erstmals poppte das Thema in Brandenburg 2015 auf. Damals hatte eine Gruppe von Menschen, die sich
„Coconat“ nannte, ein altes leerstehendes Gebäude des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds (FDGB) zwischen Potsdam und Brandenburg an der Havel in Beschlag genommen und etwas Geld bei der Crowdfunding-Plattform visionbakery eingesammelt. Dann riefen sie zum gemeinsamen „Crowd-Building“ auf, einer Mischung aus freiwilligem Arbeitseinsatz und Würstchen-Grillen. „Die damit verbundene Konzeptskizze war ungewöhnlich und trug in sich schon viele Ideen, die heute Realität geworden sind: Coworking, Innovationshub für die Region, Einbeziehung der lokalen Partner, Übernachtungsangebote und die Möglichkeit für Feiern“, erinnert sich Dr. Andreas Zimmer, Abteilungsleiter Clustermanagement Tourismus bei der Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH (TMB).
Eine Art von Tourismus, die über sich selbst hinausreicht
Das Coconat verstand sich schon damals als Pionier für eine starke Antwort ländlicher Gebiete auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters und als Leuchtturmprojekt. Als Dr. Steffen Kammradt, Chef der brandenburgischen Wirtschaftsförderung 2018 von einem „zweiten Gleis der Wirtschaftsentwicklung im Land“ sprach, klang das für viele Industrievertreter damals noch irritierend. Im Jahr 2019, inzwischen umgezogen in ein leerstehendes Gutshotel in Bad Belzig im Fläming, gewann das Coworking-Projekt „Coconat–workation retreat“ dann den Deutschen Tourismuspreis und das Thema nahm auch
dank einer Förderung des Landeswirtschaftsministeriums Fahrt auf.
Rückblickend könne man sagen: „Ohne das Coconat gäbe es keine Kreativregion Fläming, die das marketingtechnisch aufnahm, keinen Smart Village- oder Smart City-Ansatz und keine zukunftsaffine Allianz zwischen kommunalen Aufgabenträgern, Vereinen, Einheimischen und Zuzüglern“, so Dr. Zimmer. Neustes Projekt – aber nur eines von vielen – ist ein Mobilitätscampus, an dem Mobilitätslösungen für den ländlichen Raum entwickelt werden.
„Im besten Fall können Workation-Orte zu Resonanzbeziehungen zwischen Stadt und Land, Metropole und Provinz, Einheimischen und Gästen sowie verschiedenen Milieus und Gruppen werden. Sie können als
Dritte Orte maßgeblich dazu beitragen, zu versöhnen und eine Kultur des Miteinanders befördern.”
Manche vermuten, dass die Malerkolonien und Plain Airs der Impressionisten im ausgehenden 19. Jahrhundert zu den ersten Coworkations auf dem Land gehörten. Das erste Mal tauchte der Begriff aber in San Francisco auf. Hier eröffnete 2005 das „Spiral Muse“ als feministisches Kollektiv. Der Unterschied zu den zum damaligen Zeitpunkt auch in Deutschland schon etablierten Business Centern war einerseits die durch das Coworking entstehende Arbeitsdynamik sowie damit zusammenhängend der Community-Gedanke, der die soziale Interaktion zu einem wesentlichen Attraktor der Orte machte.
„Coworking war am Anfang ein urbanes Phänomen, getragen von einer wachsenden städtischen Kreativ- und Kulturszene“, weiß Dr. Andreas Zimmer. Die als rückständig geltenden ländlichen Räume spielten zum damaligen Zeitraum keine Rolle. Speziell die östlichen Bundesländer verloren nach der Wende sogar hunderttausende junger Menschen, die in die Städte zogen. Die Landflucht war so gravierend, dass Wissenschaftler des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung noch im Jahr 2014 vorschlugen, Prämien an die verbliebene Landbevölkerung in Brandenburg zu zahlen, damit diese auch in
städtische Regionen übersiedeln sollte.
Und heute? Heute hat sich die Entwicklung umgekehrt. „Immer mehr Menschen begreifen die Stadt als
Defizit-Raum“, erklärt Dr. Zimmer. Teure Mieten, lange Wartezeiten auf Ämtern und bei Ärzten, fehlende Kita-Plätze, steigende Kriminalität, Luftverschmutzung u.v.m. haben dafür gesorgt, dass besonders aus Berlin seit Mitte der 1990er Jahre mehr Zuzüge nach Brandenburg als Abwanderung zu verzeichnen sind. Genaugenommen waren es bis zur Mitte des letzten Jahrzehnts bereits 480.145 Menschen, die es aus den Metropolen ins ländliche Brandenburg zogen.
Eine Folge dieses Zuzugs: Inzwischen gibt es in Brandenburg bis zu 70 Orte, an denen sich touristische Co-Ansätze finden. Von hochprofessionellen Räumen in privater Trägerschaft, beispielsweise das Unicorn oder das MietWerk in Potsdam, über öffentliche Projekte wie das Technologie- und Gründerzentrum Prignitz bis hin zu spezialisierten Konzepten wie dem Musikbahnhof Annahütte.
„Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, ist sich Dr. Zimmer, bei der Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH auch für den Aufbau von Coworking-Netzwerken verantwortlich, sicher. Für das Thema Workation stehen im Budgetplan der TMB für dieses Jahr rund 250.000 Euro zur Verfügung – ohne Marketingaktivitäten. Die TMB hat eine klare Strategie, wie sie die Entwicklung,
getrieben von Einheimischen, Rückkehrern und ehemaligen Städtern, fördern will. Da ist zum einen ganz
klassisch die Sichtbarmachung und Vermarktung entsprechender Angebote. „Doch sind wir auch initiativ an der Schaffung neuer Orte und Netzwerke beteiligt“, so Zimmer und nennt als Beispiel das Kreativnetzwerk „Zukunftsorte“, das Gründer beratend und konzeptionell begleitet. Auch mit einem eigenen Ansiedlungsmanagement unterstützt die TMB Startups und Unternehmer bei der Standortsuche.
Darüber hinaus gibt es ein Sponsoring für Beratertage, um Betrieben, die sich schon auf den Weg
gemacht haben, bei der Professionalisierung zu helfen. Eine große Marktpotential-Studie soll in diesem Jahr auch noch eine solide Datengrundlage für die weitere Arbeit liefern.
Ein Tagungsraum mit der Überschrift Coworking-Space macht aus einem Landhotel noch kein Retreat
Blicken wir mal positiv zehn, vielleicht 15 Jahre voraus. Die letzten Löcher in der Mobilfunkversorgung sind gestopft und irgendwann ist sie wirklich da: die Breitbandverbindung in der Fläche. Berlin und Brandenburg sind als Hauptstadtregion zusammengewachsen und mit weiteren Ansiedlungen eine der innovativsten Räume in Europa. Die Urbanisierung hat einen starken Gegentrend erhalten, der
Zuzug in die ländlichen Gebiete und Klein- und Mittelstädte bringt neue kreative Lösungen nicht nur nach Brandenburg, sondern auch in andere Bundesländer. Nicht zuletzt schöpfen immer mehr Arbeitgeber das tatsächliche Fachkräftepotential aus, indem mehr ortsunabhängiges Arbeiten angeboten wird. Das hält in der Konsequenz höhere Einkommensniveaus in der Fläche, erhöht das Steueraufkommen der Gemeinden, die es dadurch schaffen, ihre soziale Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Schöne neue Welt? Ja, aber nicht unerreichbar.
Dieser Artikel ist im neuen TN-Deutschland Magazin erschienen. Das ganze Magazin zum Nachlesen gibt es HIER