
Ein Gespräch über die Rolle von künstlicher Intelligenz entlang der touristischen Wertschöpfungskette, Stammgäste aus Übersee und den Abschied von bekannten Konsummustern.
Frau Hedorfer, das Reiseverhalten hat sich seit Ende der Coronazeit noch einmal deutlich verändert – auch das der internationalen Gäste?
Corona war zweifellos eine Zäsur für den globalen Tourismus, die wir bisher nicht erlebt haben. Wir müssen aber auch betrachten, was sich seit Auflösung der Corona-bedingten Reisebeschränkungen außerdem an Rahmenbedingungen für den internationalen Tourismus verändert hat: Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, die längst nicht mehr lokal oder regional begrenzt sind, wirtschaftliche Konflikte, wie die Erhebung von Strafzöllen durch die US-Administration, mit Auswirkungen auf die Volkswirtschaften, die noch gar nicht absehbar sind sowie neue geostrategische Machtzentren im asiatisch-pazifischen Raum. In der Draufsicht bedeutet das: Die bekannten und etablierten linearen Veränderungen des Konsumentenverhaltens sind Geschichte. Wir haben es mit einer außerordentlichen Volatilität in den Märkten und den Zielgruppen zu tun und müssen mit hoher Flexibilität auch auf kurzfristige Entwicklungen im Verbraucherverhalten eingehen.
Eine aktuelle Studie der Boston Consulting Group (BCG) in 68 Ländern, darunter sowohl entwickelte Volkswirtschaften als auch Schwellenländer, untersuchte das Entwicklungspotenzial des weltweiten Tourismus bis 2024. Demnach würden sich in den kommenden 15 Jahren die Umsätze für Urlaubsreisen von 5 auf 15 Billionen US-Dollar verdreifachen. Die größten Wachstumspotenziale sieht die Studie in China, Indien und Saudi-Arabien, gefolgt von Ländern, wie Bangladesch, Bulgarien, Ägypten, Marokko und Vietnam. Und in den Altersgruppen der Millennials und Gen Z liegen die Zuwachsraten um 4 bis 26 Prozent höher als in den älteren Zielgruppen.
Welche Trends sehen Sie, die den Incoming-Tourismus verändern?
Dazu gehört die starke Dynamik des Trendthemas KI: KI-Anwendungen prägen unterdessen immer mehr das Reiseverhalten internationaler Gäste entlang der gesamten Wertschöpfungskette von der Reiseinspiration über individuelle Reiseplanung bis zu Services unterwegs und mobile Payment. So untersucht BCG die Nutzung von KI-Anwendungen in verschiedenen archetypischen Zielgruppen. 54 Prozent der „Kompromisslosen“ mit den Prioritäten Unternehmungslust, Qualität und „Value for Money“ nutzen KI-Assistenten für ihre Reiseplanung und -buchungen, bei den „Sicherheitsorientierten“ sind es 47 Prozent und bei den Spaßorientierten jeder Dritte.
Vor allem Large Language Models werden entlang der gesamten touristischen Wertschöpfungskette weiter gewinnen. Bei den digitalen Services werden mobiles Buchen und Super Apps im Sinne von One-Stop-Shopping wichtiger. Mit personalisierten Empfehlungen, persönlichen Reiseplänen und nahtlosen Buchungen werden Reisen KI-gestützt immer mehr maßgeschneidert.
Laut Hospitality & Travel Report von Adyen nutzen allein 32 Prozent der Deutschen heute schon KI-Agenten für ihre Reiseplanung. Der AI Sentiment Report von booking.com nennt 34 Prozent für Destinationsrecherche, 43 Prozent für Reiseübersetzungen und 32 Prozent für die Planung lokaler Aktivitäten. Diese Daten beziehen sich auf Deutsche. In anderen Märkten, beispielsweise China oder Indien, ist die Digitalaffinität noch viel deutlicher ausgeprägt und bestimmt auch das Anforderungsprofil potenzieller Kunden. Basis für die Implementierung von KI-Anwendungen sind maschinenlesbare Daten. Diese sind für eine erfolgreiche Markenstrategie heute genauso wichtig wie Authentizität und Storytelling. Vor allem laufen diese Prozesse in einer unglaublichen Geschwindigkeit ab. Deshalb ist auch von uns schnelles Handeln gefragt, um den wachsenden Anforderungen der Verbraucher aus internationalen Märkten an digitalisierte Eindrücke, Prozesse und Services zu entsprechen.
Könnte man die These wagen, dass auch ausländische Reisende inzwischen vermehrt Stammgäste in Deutschland werden können, wenn ihr Land keine Grenze mit der BRD hat?
So gewagt ist die These gar nicht, wenn wir auf die Zahlen von IPK International schauen. 2024 waren bereits 80 Prozent aller ausländischen Gäste (Auswertung für 27 Märkte) bereits vorher mindestens einmal in Deutschland. Und immerhin 47 Prozent waren sogar schon mindestens 4-mal in Deutschland, sind statistisch gesehen also Stammgäste. Naturgemäß ist das Potenzial für Wiederholer und Stammgäste in Nachbarländern immer besonders hoch – beispielsweise durch Wochenendtrips, Shopping in grenznahen Regionen, Transitreisen etc. Entsprechend führen die Schweiz mit 90 Prozent Wiederholern und Österreich (88 %) die Hitliste der besonders deutschlandaffinen Quellmärkte an, gefolgt von Dänemark und Tschechien (je 87 %), Polen (86 %) und den Niederlanden (84 %).
Aber auch unter den Gästen aus den 21 untersuchten Ländern, die keine direkten Nachbarn sind, waren immerhin 73 Prozent vorher schon einmal in Deutschland, darunter 41 Prozent Wiederholer (1 – 3-mal vorher in Deutschland) und 32 Prozent Stammgäste (mind.4-mal vorher in Deutschland). Sogar aus wichtigen Überseemärkten ist der Anteil der „Repeater“ hoch: Aus den USA liegt er bei 75 Prozent , bei den Chinesen und Japanern sind es jeweils 70 Prozent.
Daraus folgt: Wir haben bereits eine erfreulich hohe Zahl von Stammgästen und Wiederholern. Aber der hohe Anteil von Kultur- und Städtereisenden, die wir in Deutschland im internationalen Vergleich haben, erfordert auch entsprechendes Marketingengagement. Gäste, die „nur“ am Strand liegen wollen, verändern ihre Erwartungshaltung nur sehr allmählich. Städtereisende und Kulturtouristen hingegen sind neugierig, weitere Facetten des Deutschlandangebots zu entdecken. Entsprechend müssen wir über unser Themensetting und unsere Kampagnen immer wieder Impulse geben, erneut nach Deutschland zu reisen.
Was sind mit Blick auf die wichtigsten int. Quellmärkte die aktuell wichtigsten Trends?
Das aktuelle Monitoring Sentiment for Intra European Travel (MSIET Wave 22 vom Mai 2025) der European Travel Commission (ETC) konstatiert europaweit eine Verschiebung der geplanten Reisezeiträume von Juni/Juli (minus 3 %-Punkte) in Richtung August/September (plus 8 %-Punkte). Top-Kriterien für die Destinationsentscheidung bleiben Sicherheit (19%) und stabiles Wetter, Gastfreundschaft und nicht überfüllte Destinationen gewinnen an Bedeutung. Größte Sorgen der Kunden sind inflationsbedingt steigende Reisepreise und die Einschätzung der persönlichen finanziellen Situation.
Die Betrachtung ausgewählter Überseemärkte (USA, China, Australien, Kanada, Japan, Südkorea) aus Sicht der ETC ergibt für die letzten vier Monate des Jahres 2025 zwar eine sinkende Reisebereitschaft zu Fernreisen insgesamt (minus 4 %- Punkte), allerdings bleiben die Werte für Europa auf Vorjahresniveau stabil, und das Interesse an Deutschland steigt (plus 3 %-Punkte). Top-Kriterien für die Destinationsentscheidung sind in diesen Fernmärkten Sicherheit, Sehenswürdigkeiten und touristische Infrastruktur, wobei Europa als sicherste Weltregion bewertet wird.
Auch die European Travel Commission hat gerade erst eine umfassende Studie veröffentlicht, die den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in den nationalen Tourismusorganisationen (NTOs) Europas beleuchtet. Demnach nutzen im Marketing schon 72 Prozent KI-Anwendungen.
Was heißt das konkret für das Reiseland Deutschland?
Konkret auf Deutschland bezogen sehen wir für das erste Halbjahr, dass bei den Städtereisen auch kleinere Kommunen gewinnen. Einen deutlichen Beleg für Impulse beim Kultur- und Städtetourismus liefert Chemnitz. Die Kulturhauptstadt Europas 2025 verzeichnet im ersten Halbjahr ein Plus von 21,2 Prozent bei den internationalen Übernachtungen. Und der Ausblick: Im DZT Travel Industry Expert Panel für das 3. Quartal betrachten 76 % der internationalen Key Accounts Deutschland aufgrund der Vielzahl an verschiedenen Sehenswürdigkeiten als attraktive Destination für Städte- und Kulturreisen. Der Trend bei den Flugbuchungen ist positiv. Laut Forward Keys lagen Ende August die Buchungen „on the book“ für die kommenden drei Monate um 3,7 % über den Vorjahreszahlen.