CLAUDIA GILLES, HAUPTGESCHÄFTSFÜHRERIN DEUTSCHER TOURISMUSVERBAND (DTV)

Ein Rückblick auf 22 teils sehr bewegte Jahre an der Spitze des DTV, freie Gedanken zum heutigen Deutschlandtourismus und ein privater Ausblick auf eine Zeit ohne Gremien und Sitzungen.

Foto: Jan Sobotka/DTV

 

Frau Gilles, man muss schon länger als 22 Jahre im Tourismus arbeiten, um sich an eine Zeit ohne Sie an der Spitze des DTV erinnern zu können. Wie wird das für Sie sein, wenn diese Zeit vorbei ist?

Angefangen habe ich beim DTV ja sogar noch früher. 1989, kurz vor dem Mauerfall. Damals in der Pressestelle. Und der DTV hieß seinerzeit noch Deutscher Fremdenverkehrsverband. Ich wusste damals nur, dass sich Tourismus mit O und U schreibt (lacht). Aber durch die Wende war ich gleich hineingeworfen in eine sehr bewegte Zeit. Und dass ich diesen Weg so nehmen würde, wie es am Ende gekommen ist, war nicht absehbar. Mit dem Gedanken dieses Jahr aufzuhören, habe ich mich aber bereits länger beschäftigt. Schon 2011, als ich meinen Mann geheiratet habe, hatte ich ihm versprochen: Ich höre früher auf. 2016 habe ich dem Präsidium dann mitgeteilt, meinen Vertrag nicht noch einmal zu verlängern. Nun bin ich 63. Kein exotisches Alter um auszusteigen. Mental habe ich mich also damit auseinandergesetzt. Aber ich weiß nicht wie es sein wird. Ich habe mir nur für die erste Zeit vorgenommen, durchzuschnaufen. Und möglicherweise ziehen wir schon in diesem Jahr zurück ins Rheinland.

 

Und dann? Eine Claudia Gilles ganz ohne Tourismus oder Ehrenämter?

Wenn ich das Gefühl habe, genug aufgetankt zu haben, geht es darum, Dinge neu anzupacken. Ich habe viele Interessen: Ich gehe gerne wandern, lese viel, mag Gartenarbeit. Ich interessiere mich für Musik, tanze und fahre Fahrrad. Ein Ehrenamt im Tourismus kommt nicht infrage. Auch in Beratungsprojekten wird man mich nicht sehen. Im Tierschutz oder ähnliches werde ich es vielleicht ausprobieren. Das Schöne ist ja: Ich darf nach meinem Ausstieg machen, was mir wirklich Spaß macht. Zumindest stelle ich es mir in der Theorie so vor. Ich werde jedenfalls keine touristischen Fachzeitschriften oder Newsletter mehr lesen. Lieber Krimis oder Biografien.

 

Wenn Sie zurückblicken: Wie hat sich der Verband im Laufe der Zeit verändert, um zu werden, was er heute ist?

Als ich anfing als Hauptgeschäftsführerin, hatten wir eine schwere Zeit. Bayern war gerade ausgetreten. Baden-Württemberg folgte kurz darauf. Niedersachsen war auch schwierig. Es gab sogar eine heftige Diskussion darüber, DZT und DTV zusammenzuführen. Es war eigentlich ein permanenter Krisenmodus. 2003 dachte ich sogar, es geht vorbei mit diesem 1902 gegründeten Verein. Und ich war als Geschäftsführerin anfangs unerfahren. Manches lief rückblickend vielleicht unprofessionell. Wobei ich dazu sagen muss, dass früher alles nicht so ergebnisorientiert war wie heute.

 

Wie meinen Sie das?

Ich hatte das Gefühl, für viele Akteure war es damals wichtiger, dass eine Sitzung stattfand als das, was dabei herauskam. Das war ein „richtiges“ Verbandsleben. Ich hatte aber dann das Glück, dass es Personen wie unsere damalige Vizepräsidentin Gabriele Weishäupl gab, die anregte, mal eine Klausursitzung zu machen um zu klären, wohin es mit dem DTV in Zukunft gehen soll. Das war 1999. In der Folge ist viel passiert. Aus dem Deutschen Fremdenverkehrsverband wurde etwa der DTV, die Kündigungsfristen wurden von sechs Monaten auf eineinhalb Jahre verlängert, was uns mehr Planungssicherheit gab. Und irgendwann ging es endlich bergauf.

 

Noch mal kurz zurück in die Zeit nach dem Fall der Mauer. Wie war das? Herrschte da richtig Aufbruchstimmung?

Das war emotional sehr bewegend. Der damalige Hauptgeschäftsführer Jürgen Werner wurde selbst in Magdeburg geboren und hat mit dafür gesorgt, dass in den neuen Ländern ab 1990/91 überall Tourismus-Organisationen entstanden. Wir haben damals Schnellinformationen angeboten mit Informationen über den Norden, Süden und Westen. Über Flyer auf Marktplätzen kam das unter die Leute. Das kann man sich heute genauso wenig vorstellen wie die Tatsache, dass man ohne Ausschreibung Geschäftsführerin werden konnte. Ich selbst war damals leider nicht sofort mit draußen. Das war ich erst ab 1992. In meiner Erinnerung waren in den neuen Ländern alle mit absolutem Engagement dabei. Im Westen waren manche sogar neidisch auf den Fakt, dass man alles neu machen konnte. Es war aber auch eine wilde Zeit mit vielen falschen Beratern. Erst ab etwa 1996 ging es im Osten in geordnete Bahnen über.

 

Auf welche Dinge blicken Sie stolz zurück, etwa Projekte, die Sie angestoßen haben und die gelungen sind?

Mir ist wichtig vorwegzuschicken, dass ich mir wenige Dinge allein ausgedacht habe. Und erst recht nicht allein umgesetzt. Auf der Habenseite stehen sicherlich der Deutsche Tourismuspreis und die Aufwertung des Tourismustages, die Sterne-Klassifizierung, die inzwischen 750 Lizenzverträge mit Tourist-Informationen und eine stringente Strategie, die sich heute in einem starken Netzwerk von der Kommune bis zur Landesebene widerspiegelt. Auch auf die Rolle, die wir mittlerweile als Dienstleister einnehmen, können wir stolz sein, beispielsweise indem wir viel beachtete Leitfäden herausgeben, die von digitalen Themen über Nachhaltigkeit bis zum Thema Recht in der Praxis reichen. Auch, dass sich unsere GmbH selbst finanziert, verbuche ich als Erfolg.

 

Was ist rückblickend nicht so gelaufen, wie Sie es sich vorgestellt hatten?

Vielleicht war ich anfangs nicht selbstbewusst genug, obwohl ich von dem, was wir tun sollten, überzeugt war. Es gelang mir in den ersten Jahren nicht, andere schnell genug mit ins Boot zu holen. Und so mussten wir vor 2004/2005 teils viele Runden drehen. Da habe ich schon auch mal an mir und meiner Überzeugungskraft gezweifelt. Aber am Ende haben wir Erfolg gehabt. Wohl auch, weil es eine meine Stärken ist, in einer teils von Eitelkeiten geprägten Welt nichts persönlich zu nehmen.

 

Bitte führen Sie folgende Sätze so kurz wie möglich zu Ende:

 

Der Deutschlandtourismus vor 20 Jahren war

…auf dem Sprung in eine neue Ära.

 

Am Deutschlandtourismus mag ich

…das breite Netzwerk.

 

An unserer Branche kann man verzweifeln, wenn

…Eitelkeiten über die Sache gestellt werden.

 

Was sind derzeit die größten offenen Baustellen in Ihren Augen – und wie müsste man sie angehen?

Hier hebe ich zwei Dinge hervor. Einmal, dass Tourismus seitens der Politik als eine freiwillige Aufgabe betrachtet wird. Die DMOs treten in Deutschland als Bittsteller auf. In anderen Ländern ist das gesetzlich – und besser – geregelt. In Sachen Tourismusfinanzierung herrschen bei uns trotz einiger Zweckbindungen Zustände wie im Wilden Westen. Das zweite große Thema ist der Fachkräftemangel, allen voran in der Hotellerie und in der Gastronomie. Ohne diese Leistungsträger kann der Tourismus einpacken. Personalmangel färbt direkt auf die Service- und Produkt-Qualität ab. Fehlen gute Köche, setzt man auf Convenience-Lebensmittel, um den Betrieb am Laufen zu halten. Und immer brisanter ist auch, dass viele Betriebe schließen, weil sie keinen Nachfolger finden. Übrigens nicht nur im ländlichen Raum. Ich wünsche mir, dass die Politik das mutig angeht. Am besten in einem Paket aus fairen Löhnen und verlässlichen Arbeitszeiten für die Mitarbeiter sowie Perspektiven für die Betriebe. Was einfach klingt, ist in Wahrheit natürlich sehr schwierig, weil die Ausgangslage im Erzgebirge eine ganz andere ist als in München. Trotzdem würde ich mir vor allem mehr Tarifbindung in der Tourismusbrache wünschen.

 

Es gibt Zungen, die behaupten, die Wachstumszahlen der letzten Jahre hätten wenig bis nichts mit der Arbeit der DMOs / LMOs zu tun. Was entgegnen Sie dem?

Erfolg hat immer viele Mütter und Väter. Und es soll doch erst einmal jemand beweisen, dass die DMOs nicht ihren Anteil an diesem Erfolg haben. Ich glaube diese Kritik kommt vielleicht daher, dass die DMOs im Marketing immer wieder neue Dinge ausprobieren. Manches wirkt da nicht unbedingt nachhaltig. Wobei in den vergangenen Jahren viel professionalisiert wurde. Auch die Marktforschung liefert heute wichtige Erkenntnisse, wie die oft geringen Mittel zielgerichteter eingesetzt werden können. Aber Fakt ist auch, dass die Hotellerie viel investiert hat und wir viele innovative Gastgeber und Gastronomen in Deutschland haben, die diesen Boom tragen. Gerade hier ergibt die Erfahrenheit der Alten und die Innovationskraft der Jungen einen starken Mix. Nicht zu vergessen: Auch die öffentliche Hand hat viel in Infrastruktur wie Rad- und Wanderwege investiert.

 

Haben wir zu viele Organisationsebenen im Deutschlandtourismus? Oder ist gerade diese Kleinteiligkeit die große Stärke?

Diese Diskussion verfolgt mich fast seit meinem ersten Tag. Ich kann bei all den Fusionen und Alleingängen der letzten Jahrzehnte jedenfalls keine klare Linie erkennen. Viel wäre schon gewonnen, wenn klar wäre, welche Ebene was genau macht und wenn sich alle an die Aufgabenteilung halten. Dann ist die Anzahl  der Tourismusorganisationen eigentlich zweitrangig. Und ein Stück weit gab es über all die Jahre auch immer eine Art Selbstregulierung.

 

Mit Blick auf die Politik: Die Zeit der SPD als Volkspartei ist zu Ende. Die CDU verliert ebenfalls. Und im Osten Deutschlands könnte die AfD stärkste Kraft werden. Wie bewerten Sie das persönlich – aber auch mit Blick auf die Tourismusarbeit, die stark an der öffentlichen Hand hängt?

Als Bundesorganisation haben wir uns tourismuspolitisch nie parteipolitisch positioniert. Wir reden mit allen – nur mit einer Partei nicht proaktiv. Aber ja, das Spektrum verändert sich. Neben dem Erstarken der AfD sehen wir aber ja auch ein Aufkommen der Grünen. Ich will die AfD nicht kleinreden, aber wenn wir von 11 Prozent bei der Europawahl sprechen, ist das nicht die Mehrheit. Wir haben mit der Kampagne „JaZuWeltoffenheit“ klar gemacht, wo die Branche steht, dass gewisse Werte nicht verhandelbar sind. Aber unsere tourismuspolitische Arbeit erfolgt losgelöst von parteipolitischen Programmen.

 

Frust auf die Politik ist auch in der Tourismusbranche nicht selten. Wie könnte man das strukturell vielleicht besser lösen?

Da sind wir wieder beim Problem der freiwilligen Aufgabe Tourismus. Dass die Politik, die Geld an die Organisationen gibt, auch mitreden möchte, verstehe ich. Wenn also die Finanzierung gesetzlich klar geregelt wäre, hätten wir viel erreicht. Ich erlebe aber auch, wie begeisterungsfähig Politiker für touristische Themen sein können. Aber viele Politiker kümmern sich natürlich zuerst mal um die großen Problemfelder. Wir mit unseren stetigen Wachstumszahlen vermitteln den Eindruck, dass es läuft. Wir müssen also sehr gut argumentieren. Echter Handlungsdruck ist vielerorts für die politische Ebene auf den ersten Blick gar nicht erkennbar. Wir müssen klar machen, dass Tourismus allen nutzt: den Betrieben, den Einheimischen und den Gästen.

 

Der DTV hat als einziger Verband echte Handlungsempfehlungen für die Umsetzung der Nationalen Tourismusstrategie vorgelegt: Ist das die Kompetenz des DTV in Zukunft – das Engagement in der Tourismuspolitik?

Tourismuspolitik ist ein ganz wichtiges Standbein des DTV. Eines, das mit der Schaffung der Stelle des Tourismusreferenten und dem Einstieg von Norbert Kunz vor eineinhalb Jahren natürlich noch einmal an Gewicht gewonnen hat. Aber eine zentrale Aufgabe ist auch, für unsere Mitglieder da zu sein, indem wir ihnen zum Beispiel Informationen und Services bieten, die sie im Alltag sowie in Zukunft brauchen. Der DTV steht vereinfacht gesagt auf drei Beinen: Tourismuspolitik, Qualität und Zukunft des Tourismus.

 

Bitte führen Sie folgende Sätze so kurz wie möglich zu Ende:

 

Damit Deutschland als Reiseland weiter eine gute Entwicklung nimmt, ,muss

…die Erlebnisqualität vor Ort stimmen.

 

Digitalisierung im Tourismus bedeutet

…mehr als Likes und Fake News.

 

Kreativität im Tourismus bedeutet für mich

… vieles, was der Deutsche Tourismuspreis zu Tage fördert.

 

Abschlussfrage: Was sind die drei wichtigsten Ratschläge an Ihren Nachfolger, damit er den DTV erfolgreich führen kann?

Er braucht von mir keine Ratschläge. Ich wünsche ihm einfach viel Glück und Freude an seiner Arbeit, so wie ich sie hatte.