Carlo Imboden, Medienforscher, Berater und Erfinder von ReaderScan

Ein Gespräch über die Nutzung von Reiseteilen in Tageszeitungen, Geschichten, die Leser nicht interessieren, und was Verlage tun sollten, um ihren Seiten wieder Relevanz zu verschaffen.

 

Herr Imboden, Ihr ReaderScan-Verfahren ist ein bewährtes Mittel, um Lesegewohnheiten von Tageszeitungs-Lesern aufzuzeigen. Bitte erklären Sie uns ganz kurz, wie das System funktioniert.

Wichtig ist vorwegzuschicken, dass hier kein Leser im Nachhinein befragt wird, wie bei 95 Prozent aller anderen Erhebungen. Unser Verfahren erlaubt das Aufzeichnen der Leseprozesses während des Lesens. Dafür statten wir jeden Studienteilnehmer mit einem Handscanner von der Größe eines Textmarkers aus. Der Leser markiert damit dann nur die letzte Zeile eines Artikels, den er gelesen hat. Für gute Marktforschung ist diese Einfachheit der Methode entscheidend.

 

Was passiert dann?

Die gescannte Zeile wird elektronisch mit dem ePaper der Ausgabe abgeglichen. Wir wissen dann also genau welche Texte gelesen wurden, wie lange – und welche Texte auch überhaupt nicht genutzt worden sind.

 

Was lässt sich daraus ableiten?

Das Wichtigste ist sicherlich, dass ein Verlag und die Redaktion ein hartes Feedback bekommen, welche Themen bei den Leserinnen und Lesern funktionieren, wie Artikel genutzt und ob sie überhaupt gelesen werden. Und wir stellen fest, dass es hier eine große Diskrepanz gibt zwischen dem, was Redakteure für relevant halten und was für die Abonnenten wichtig ist. Das digitalisiert erfasste Leseverhalten und die anschließende Auswertung sind daher für nicht wenige Redakteure ein Schock.

 

In wie fern?

Jedes Ressort hält sich selbst ja für sehr wichtig. Wenn man dann aber schwarz auf weiß sieht, dass der eigene Artikel so gut wie gar nicht gelesen wurde und das Ressort ebenfalls fast nicht genutzt wird, dann trifft einen das erst einmal. Zwar muss man festhalten, dass sich die Lesegewohnheiten einer Wochenzeitung unterscheiden von denen einer Tageszeitung. Übergreifend konnten wir aber immer feststellen, dass ein Großteil der Artikel am Leserinteresse vorbeigeht. Mehr als acht bis höchstens 20 Prozent einer Zeitung wird nicht gelesen.

 

Das ist wirklich niederschmetternd. Welches Ressort wird am schlechtesten genutzt?

Der Leser zappt durch seine Zeitung. Die Durchschnittliche Verweildauer pro Artikel beträgt gerade einmal 15 Sekunden – aber meistens ja null. Als wir 2004 mit den Messungen bei der Mainpost begonnen haben, war die Nutzung der Ressorts eine große Überraschung. Aber es hat sich immer wieder bestätigt. Schlecht gelesen wird der Sportteil. Ebenso dramatisch ist die Lage bei der Kultur. Die Berichterstattung über die Aufführung barocker Choralgesänge in der stätischen Oper interessieren niemanden außer den Autor und die paar hundert Zuschauer, von denen aber auch nur ein Bruchteil diese Zeitung liest. Auch für die Lokalteile sieht es nicht gut aus, weil sich jeder zwar für seinen Stadtteil interessiert – aber in der Regel ja mehrere Teilgebiete in einem Lokalteil zusammengefasst werden. Am besten genutzt wird der Politikteil. Auslands- wie Inlandsberichterstattung interessiert hier gleichermaßen.

 

Wie sieht es konkret mit den Reiseteilen aus?

Die Nutzung ist hier in jedem Fall unterdurchschnittlich. Das hat mehrere Gründe. Einerseits, weil dieser Teil der Zeitung im Gegensatz zur Politik nicht als Pflichtteil betrachtet wird. Darüber hinaus erscheinen Reiseteile nicht täglich. Und wir haben festgestellt, dass etwas, das nicht täglich Teil der Zeitung ist, nicht gesucht wird. Ein nur samstags erscheinender Reiseteil hat also in einer Tageszeitung schon per se ein Handicap. Aber das Wichtigste sind natürlich auch hier die Inhalte, die nicht zum Leserinteresse passen.

 

Bitte erläutern Sie das.

Ein Autor muss sich bewusstmachen, dass er für ein Massenmedium schreibt. Trekking in Nepal oder Tauchen auf den Fidschi-Inseln sind zwar tolle Erlebnisse für den Redakteur. Aber es interessiert eben die meisten nicht. Wir haben das bei der ZEIT ganz deutlich gesehen: Wenn über ein Zielgebiet berichtet wurde, das viele Deutsche kennen oder sogar öfter bereisen, dann schnellt die Kurve nach oben. Versucht uns der Autor auf den Mekong zu entführen, kommen die allermeisten nicht mit.  Und die höchste Lesequote haben Reiseartikel, die nicht bloß über einen Ort als solchen berichten, sondern die Zielgebietsgeschichte mit einem gesellschaftlich relevanten Thema verbinden. Ideal wäre also zum Beispiel eine Mallorca-Geschichte, die dazu noch das Thema Reisen im Alter bespricht.

 

Haben Sie noch weitere Tipps für Reisejournalisten?

Eine Geschichte nie am Ort des Geschehens beginnen lassen. Steht der Ortsname im ersten Satz, ist die Ausstiegsquote enorm hoch. Eine gute Geschichte muss im Kopf des Lesers beginnen.

 

Wie viele Zeitungen in Deutschland haben ihr System bislang genutzt?

In Deutschland haben von der FAZ über FAS und Die Zeit bis zur Welt eigentlich alle überregionalen Qualitätszeitungen unser Verfahren genutzt. Dazu kommen Boulevardtitel wie BILD, Berliner Kurier und 60 bis 70 Regionalzeitungen.

 

Welche Erkenntnisse sollten Verlage aus einem ReaderScan ziehen?

Das ist natürlich immer eine individuelle Betrachtung. Aber über den Anspruch, die Welt und die Entwicklungen möglichst in ihrer Vollständigkeit abbilden zu wollen, müssen die Verlage ernsthaft und kritisch nachdenken. Vor allem, weil unsere Ergebnisse eines doch sehr klar zeigen: Eine Tageszeitung wird vom Leser heute nicht mehr als Newspaper im wörtlichen Sinne begriffen. Die sogenannten Newsspalten werden kaum genutzt. Das Meiste davon ist für den Leser schon bekannt, wenn die Zeitung abends in Druck geht. Für News gibt es heute digitale Kanäle. Gut recherchierte Hintergrundberichte zu aktuellen Geschehnissen werden dagegen gelesen. Umso wichtiger ist dann aber zu wissen, was den Leser interessiert! Die Zeiten, dass Redaktionen auf dem hohen Ross sitzen können und dem Leser irgendetwas eintrichtern möchten, sind vorbei.